Arnold Hohmann schreibt über
Winkelmanns Filmpanorama DEUTSCHLAND.PICT

im Katalog Deutscher Pavillon



Eigentlich ist das in Worten ganz und gar unbeschreiblich. Eigentlich muss man es sehen, nicht nur einmal, sondern ganz oft, um auch nur eine ungefähre Ahnung von dem zu bekommen, was da abläuft. Aber dazu hat, zumindest in seiner endgültigen Dimension, bis zur Fertigstellung dieses Textes noch niemand Gelegenheit gehabt. "Deutschland.Pict”, dieses virtuelle Film-Panorama des Dortmunders Adolf Winkelmann für die "Mosaik Deutschland”-Abteilung des deutschen Pavillons, existiert auch im April des Jahres 2000 noch immer nur als Vision im Kopf des Machers. Aber was er da voller Enthusiasmus vor einem ausbreitet, was er da behelfsmäßig auf nur wenigen Monitoren zeigen kann, lässt Imposantes erahnen: Deutschland, ein Bilderstrom, sichtbar gemacht auf 35 Bildflächen, mal kontrapunktisch auseinanderdriftend, mal zu einem großen Ganzen zusammenfließend, keinem Erzählrhythmus folgend, nur der eigenen Logik gehorchend, assoziativ, meditativ, einzigartig. Ein Land wird optisch neu geboren.


Am Anfang gab es lediglich die Vorstellung, die 16 deutschen Länder im nationalen Pavillon nicht nur durch symbolische Exponate, sondern auch bildlich zu präsentieren. Gedacht war ursprünglich an jeweils 90 Sekunden lange, ausschließlich aus Archivmaterial zusammengestellte Filme. Als sich mehr und mehr die Erkenntnis durchsetzte, dass eine solche Lösung in dieser Umgebung denn doch wohl zu traditionell und mit dem muffigen Geruch des "Kulturfilms” behaftet wäre, begab man sich auf die Suche nach dem entscheidenden Impulsgeber. Jemanden wie Adolf Winkelmann schließlich mit der Realisation zu betrauen, erscheint auf den ersten Blick sicher nicht als die naheliegende Entscheidung. Schließlich resultiert Winkelmanns Ruf aus Kinofilmen mit sattem Ruhrgebiets-Kolorit ("Die Abfahrer”, "Jede Menge Kohle”) und aus mehrteiligen Fernseh-Thrillern ("Der letzte Kurier”), die ihm auch schon den Adolf-Grimme-Preis bescherten. Der Dortmunder also ist eigentlich ein Mann des fiktionalen Spielfilms, aber er ist auch einer, dessen Anfänge im Bereich bewegter Bilder beim Experimentalfilm lagen.
Es mögen diese nostalgischen Erinnerungen an alte Kasseler Hochschulzeiten gewesen sein, die schwelgerische Sehnsucht nach dem völlig freien Arbeiten von damals, die ihn schließlich bewogen haben, den Auftrag für die EXPO anzunehmen.

Winkelmann aber wollte von Anfang an nicht nur den Vertrag, er wollte vor allem den ganzen gigantischen Raum erobern. Die ursprünglich vorgesehenen 16 Bildschirme auf den 16 Länder-Inseln, zusammen mit den drei sich drehenden so genannten "Leaf-Screens” am metallenen Baum im Zentrum, erschienen ihm viel zu dürftig für eine Raumgröße von immerhin 80 Meter Länge, 40 Meter Breite und 16 Meter Höhe. Zusätzlich wollte er auf jeden Fall 16 weitere Leinwände mit je 20 Quadratmetern Projektionsfläche und je zwei Metern Abstand in einem Halbrund frontal zu den sechs Eingängen hängen. Noch bevor er ein einziges Bild hatte, war da diese Vorstellung: den Zuschauer gleich beim Eintritt zu empfangen, ihn nicht nach Bildern suchen zu lassen, sondern ihn sofort darin einzuhüllen. Eine "kontemplative, fast meditative Atmosphäre” wollte Winkelmann damit erzeugen, Intimität inmitten des Kolossalen damit gewährleisten.

In der ehemaligen Zeche "Nordstern” auf dem früheren Bundesgartenschau-Gelände in Gelsenkirchen mietet der Dortmunder Studioräume an, um Platz zu haben für das Projekt in seinen gigantischen Ausmaßen. Hier postiert er 16 Monitore in einem Halbrund, um die Situation in Hannover zumindest ansatzweise zu simulieren, hier versammelt er auch vier Schnittcomputer mit insgesamt 1,2 Terrabyte Datenspeicher, um die Masse an Material verarbeiten zu können, die nun von außen hereinströmt. Mal drei, mal vier Kamerateams sind unterwegs, um unter Leitung von Winkelmanns langjährigem Chefkameramann David Slama jene Bilder einzufangen, die dem Filmemacher vorschweben: Bilder von der Schönheit des Landes ebenso wie von seinen Konflikten, seinen Begabungen, seiner Technologie und den Menschen. Der Regisseur (vielleicht doch besser: Organisator) selbst ist nur hin und wieder mit vor Ort, ansonsten lässt er Dreh-Layouts anfertigen, die er daheim auf Brauchbarkeit überprüft. Ein zwölf Meter langes Regal an Videobändern kommt so am Ende zusammen, neben dem der Filmemacher auf ganz unkoventionelle Art versucht, den Überblick zu behalten: Bisher stets mit der Sicherheit eines Drehbuchs ausgestattet, beginnt er nun plötzlich, Karteikarten auszulegen und Zettel vollzukritzeln, die ihn an einen Komponisten erinnrn lassen, der an einer Partitur schreibt. Da alle acht Minuten 700 Menschen neu in das "Mosaik Deutschland” hineinströmen werden, will er etwas schaffen, "was keinen Anfang und kein Ende hat”. Film will er es auf keinen Fall nenen, denn schließlich montiere man nicht hinter-, sondern praktisch nebeneinander, auch der leiseste Ansatz einer Erzählstruktur sei nicht vorhanden. Im Grunde ist das, was hier entsteht, das genaue Gegenteil von Film – bewegte Fotografie vielleicht.

Je tiefer Winkelmann sich hineinvertieft in die von ihm und seinen Kameraleuten gefunden Bilder, je höher schraubt er den Anspruch an sich selber. Längst ist er weit davon entfernt, die Bildflächen mit jeweils dem gleichen Material zu bestücken. Inzwischen sind es 35 unterschiedliche Bildströme, die er abschicken will, die aber alle als Teil eines Ganzen funktionieren sollen – streng durchkomponiert eben. Die großen Leinwände, so lautet der Ansatz jetzt, sollen das Thema vorgeben, die 16 Screens praktisch den Kommentar dazu liefern – und die drei "Leaf-Screens” mit originellen Details aufwarten. Jedenfalls soll alles irgendwie miteinander korrespondieren. Der Timecodegenerator, der Steuerungsgeber also, wird zum Herzstück dessen, was sich inzwischen mehr und mehr als genuine Video-Installation herauskristallisiert. Er kontrolliert die Abläufe, die sich furchtbar kompliziert anhören, jedoch von einer strengen Struktur beherrscht sind. Das 36 Minuten lange Band, das wie eine Endlosschleife 20 mal pro Tag ablaufen wird, besteht aus 16 zweiminütigen Teilen (hier kommt die Zahl der Länder doch wieder zum Tragen) mit einer einminütigen "Pause” nach jeweils acht Minuten. Die "Leaf-Screens” werden in diesem Zeitraum zweimal ihre Ausgangsposition erreichen, wobei der Timecode auch berücksichtigen muss, dass die Zweige nach Inbetriebnahme 15 Minuten brauchen, um ihre Sollgeschwindigkeit zu erreichen.
Aber das ist nur der äußere Rahmen, der sich geradezu bescheiden ausnimmt gegenüber dem, was Winkelmann an Programm ausgetüftelt hat. Wenn es ein wiederkehrendes Element in
"Deutschland.Pict” gibt, dann ist es das Zitat eines Länder-Exponats zu Beginn jeder zweiminütigen Sequenz. Dann jedoch ist dem freien Spiel der Gedanken Tür und Tor geöffnet, gibt es waghalsige Bildsprünge, die manchmal assoziativ leicht nachzuvollziehen sind (vom Leuchtturm über Lichtquellen hin zu Solarzellen), manchmal aber auch enträtselt werden wollen – was etwa hat das Innere eines Mischpults in Hamburg mit dem Ausdocken eines Containerschiffs in Wismar zu tun? Schiffe scheinen trunken zu einer schleppenden "La Paloma”-Version auf Ebbe und Flut herumzutaumeln, in Neckarsulm wirkt es fast wie ein erotischer Akt, wenn Werksarbeiter mit weißen Handschuhen zärtlich eine Audi-Karosserie auf Beulen abtasten und Marlene dazu ihr "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt” singt.

Womit wir bei der Rolle der Musik in Adolf Winkelmanns Deutschland-Programm wären. Der Düsseldorfer Komponist Hans Steingen hat sich jede Sequenz vorgenommen und nach der passenden Untermalung gesucht, nicht selten auch im Hinblick auf eine ironische Akzentuierung. Herausgekommen ist ein Klangteppich aus großen Meistern (Beethoven, Hindemith, Wagner, aber auch Weill), vorgefundenen Stücken und Selbstkomponiertem. Wagners "Rienzi”-Ouvertüre etwa erklingt nur deshalb zum Spacelab aus Bremen, weil, so Steingen, "die einsame Trompete darin so schön die Einsamkeit des Astronauten ausdrückt”. Nie wird etwas ganz ausgespielt, meist wird Bekanntes verfremdet, so dass Irritationen nicht nur auf der Bild-, sondern auch auf der Klangebene stattfinden. Musik einfach nur als Illustrierung unterlegt, das wäre denn doch ein zu banaler Vorgang für "Deutschland.Pict”. Also ließen Winkelmann und Steingen den größten Teil des Soundtracks in München von Symphonikern einspielen, benutzten dafür einen 34-Kanal-Ton und präsentieren somit einen Raumklang, wie es ihn so noch nicht gegeben hat: Jedem der Screens ist nun ein Lautsprecher zugeordnet, der nur ganz bestimmte Instrumente wiedergibt. Der Besucher, der zwischen den Bildschirmen flaniert, durchschreitet somit gleichzeitig auch ein komplettes Orchester.
Schon diese Wahlmöglichkeit weist darauf hin, dass die Absicht von
"Deutschland.Pict” sicher nicht die Vergewaltigung und Manipulation des Zuschauers ist, er bleibt in jeder Hinsicht dem Produkt gegenüber emanzipiert. Es mag zwar Winkelmanns Blick auf Deutschland sein, der hier wiedergegeben wird, aber in einer Art interaktiven Handelns kann man beim Sehen die Bilder allein schon durch den eigenen Positionswechsel verändern. Er möchte Fenster aufstoßen, meint der Bildertüftler aus Dortmund, ähnlich den Kubisten die Welt in verschiedene Ansichten aufteilen, auf dass der Betrachter sie im Kopf zu einer ganz persönlichen Gesamtansicht zusammensetzen möge. Das erfordert Gehirnarbeit, bringt aber auch, das sei versprochen, einen nicht geringen Lustgewinn
.......................................................... Arnold Hohmann